Die Ruhe nach dem Sturm. Ein Herbsttag am Strand.


Wenn die Liebste für ein paar Tage auf Reisen ist, dann darf man sich doch auch einen freien Tag nehmen, oder? Das Wetter lädt jedenfalls dazu ein. Sonnenschein, ein fast klarer Himmel, und das im November! Gestern sah es noch ganz anders aus. Schneegestöber, es war nasskalt und es pustete ordentlich. Es kam nicht nur ein Schwall Kaltluft aus polaren Regionen, der Wind hatte auch tüchtig Wasser in die Förden an der Kieler Bucht gedrückt. Im Radio gab es eine Sturmflutwarnung für die Ostseeküste. Das passiert nicht oft.

Ich wollte wissen, was das Wetter mit dem Strand von Schwedeneck angestellt hatte. Mich interessiert die Dynamik der Natur. Eine Küste ist für mich viel mehr als nur eine Linie zwischen Land und Meer. Sie ist für mich das „ganz große Theater“, so hatte ich es mal in einem Fernsehinterview gesagt. Kurz und gut: Ich sah beim Frühstück aus dem Fenster und mein Plan stand.

Aber so ganz wollte ich mich um die Hausarbeit doch nicht drücken. Keller aufräumen stand ja noch auf dem Zettel. Wenigstens sollte ich mich um das Altglas kümmern, dass da herumlag. Nach einer Stunde trällerte ich grinsend so eine Liedzeile: „I did it my way…“ Von wem war das noch? Fred Astaire? Nee, Frank Sinatra, oder?

Wer mich kennt, der weiß sicher, für welche Art des Upcyclings ich mich für die drei Wein- und die eine Bitter-Lemon-Flasche entschieden hatte. Jede war nun mit einer anderen Ausgabe der Baltic Sea Scrolls und zusätzlich einem Begleitbrief gefüllt, gut verschlossen und, zumindest die Weinflaschen, auch versiegelt.

Flaschenpost 75 b

Kreativität, seetüchtig.

Eine fünfte Flasche wartete schon seit ein paar Wochen seeklar auf ihren Einsatz. Mit der hat es etwas Besonderes auf sich. Ende Oktober war ich nämlich mit Steffen Wachs und seinem Team verabredet, um für das ZDF ein kleines Filmchen zum Thema Flaschenpost zu drehen. Ich finde das ja immer etwas komisch. Nur weil ich dieses Blog hier schreibe, bekomme ich diese Anfragen vom Fernsehen. Dabei bin ich weder besonders telegen noch habe ich außergewöhnlich spannende Geschichten zu erzählen. Meine Driftbuddeln sind auch nicht gerade spektakulär. Und es gibt doch so viele andere tolle Leute, die in diesem Metier aktiv sind, aber viel weniger Beachtung finden. Die wollte ich aber irgendwie „dabei haben“. Also schrieb ich sie an und bat sie, mir ganz schnell noch etwas zu schicken, was ich in eine Gemeinschaftsbuddel packen und beim Drehtermin präsentieren konnte.

Die Resonanz hat mich umgehauen! Fast alle haben mitgemacht: Ada Birk, Anne Berlit, Feodora Federkiel, Hilke Kurzke, Lars Schumacher, Wolf Schindler. Was ich da zusammenrollen und ins Glas stecken konnte, war so vielfältig und originell, – einfach klasse! 🙂

Nur stand bei dem Drehtermin der Wind so ungünstig, dass ich diese Preziosen nicht einfach für eine Fernsehaufnahme opfern wollte. Deswegen hatte ich sie, trotz des schon eingetragenen Abwurftermines, noch zurückgehalten.

Der Rauch aus dem Kraftwerksschornstein, der heute Morgen noch nach Süden gezogen war, stieg nun senkrecht in die Höhe. Windstille erstmal und die gute Chance, dass der Wind, wie vom Wetterbericht angekündigt, im Laufe des Tages auf Süd oder Südwest dreht.

Na denn, Parka an und los!

Den Strand bei Stohl an der Eckerförder Bucht hatte ich für mich. Nur der entleibte Kopf eines Dorsches schaute mich missmutig aus einem Haufen angeschwemmter Algen an. Offensichtlich fühlte er sich von mir in seiner Einsamkeit gestört. Also überließ ich ihn seinen Gedanken und marschierte los. Auf dem Wasser zog ein hartgesottener Paddler mit seinem Seekajak vorbei, etwas weiter draußen tuckerte ein kleiner Fischkutter. In der Ferne übte die Bundesmarine irgendwas, was mich nicht weiter interessierte.

Lego

Wer spielt denn hier mit Lego?

Trotz des schwachen Windes gab es am Spülsaum einigen Wellenschlag. Ein permanentes Klirren und Rasseln von kleinen Steinchen im Rauschen der Wellen. Der gestrige Sturm hatte einen weichen Teppich aus Tang vor mir hingebreitet, es lief sich wie auf Wolken. Mitten darin entdeckte ich einen kleinen Legostein. Wie der wohl hier hin kam? „Flachwasserbuchten sind die Kinderstube des Meeres,“ hatte ich mir mal sagen lassen. Ach so, Kinderstube, – ja, das muss der Grund sein.

Bei ein paar zerknautschen PET-Flaschen und Bierdosen war ja klar, woher die kamen. Für manche ist die Welt nur die Müllkippe, in der wir leben. Nach uns die Sintflut, das scheint wohl immer noch ein gängiges Lebensmotto zu sein.

Schlecht gezielt, aber weit geschlagen!

Weit geschlagen, aber schlecht gezielt!

Ein Rätsel war dagegen, wie ein Golfball an den Spülsaum gelangt sein konnte. Schwimmen kann er ja nicht. Fliegen schon eher, nur ist der nächste Golfplatz glatte sechs Kilometer entfernt. Da hat wohl so ein Golfer für diesen Mordsschlag schnell noch mal zum Zaubertrank des Mirakulix gegriffen, bevor Doping endgültig ein Straftatbestand wurde.

So, genug der Artefakte des Anthropozäns. Es gibt genug Natur zu beobachten.

Erosion am Kliff

Erosion am Kliff

Die Sturmflut war am Vortag bis zum Fuß des Kliffs vorgedrungen und hatte ordentlich daran genagt. Nach meiner Schätzung waren an der Basis 40 bis 50 cm wegerodiert worden. Die geologischen Prozesse ließen sich wunderschön beobachten. Die Sedimente bestehen hier aus Ton, Sand und Steinen. Die feinen Tonminerale hatten sich mit dem Wasser der Brandung zu einer trübe Suppe vermischt und waren beim Rückgang der Flut mit in die Ostsee genommen worden. Der schwerere Sand war nicht weiter als vier bis fünf Meter gekommen und hatte am Fuß des Steilufers einen flach geneigten Sedimentsaum gebildet. Größere Steine, die aus den Kliff herausgefallen waren, hatte er dabei unter sich begraben.

Küstenschutzingenieuren und dem Bauern, der 15 Meter oberhalb seinen Acker hat, macht die Erosion sicher einige Bauchschmerzen. Für mich ist es ein ganz normaler Vorgang: die Geschichte von Werden und Vergehen, die unseren Planeten gestaltet.

Alles war neu und frisch. Wie ich an Fußspuren sehen konnte, waren seit gestern nur ein Wanderer und sein Hund hier gewesen. Entdeckerstimmung! Schade nur, dass das Kliff den ganzen Tag in seinem eigenen Schatten liegt und sich deshalb schlecht fotografieren lässt.

Aber jedes Ding hatte hier irgendetwas zu erzählen. Die Flut hatte sogar ein paar Seiten im Buch der Erdgeschichte aufgeschlagen und ich durfte hineinschauen.

Blätter im Buch der Erdgeschichte.

Blätter im Buch der Erdgeschichte.

Zum Beispiel entdeckte ich Tonablagerungen, die auf Grund ihrer feinen Schichtung in ruhigem Wasser, z. B. einem See entstanden sein müssen. Allerdings sind da viele Steinchen verschiedener Größe bunt verteilt. Durch die normale Strömung konnten die nicht dorthin gelangt sein, denn wie wir schon gesehen haben, sortiert die Wasserströmung das Sediment nach Korngröße. Kies und Steine können nur von einer starken Strömung transportiert werden und lagern sich als erstes ab. Sand kommt schon ein ordentliches Stück weiter. Tonminerale brauchen dagegen stilles Wasser, um sich absetzen zu können.

Tonsediment mit "Drop Stones".

Tonsediment mit „Drop Stones“, darunter viel Kreide.

Also müssen die Steinchen woanders her kommen. Und zwar von oben. Es kann sich nur um das Sediment eines Sees (oder Meeres) handeln, der während der Eiszeit vor der Gletscherfront der Eismassen lag. Immer wieder brach damals Eis vom Gletscher ab, trieb auf dem Wasser und schmolz nach und nach. Die Gletscher hatten auf ihrem Weg von Skandinavien nach Norddeutschland aber jede Menge Geröll mitgenommen, das im Eis festgefroren war. Wenn die Eisberge nun auftauten, plumpsten die Steine auf den Grund des Eisstausees und wurden ohne Rücksicht auf ihre Größe in dem Schlick eingebettet. Der Gletscher, der hier als Lieferant gedient hatte, musste wohl im Ostseeraum ganz ordentlich an den Kreideablagerungen gehobelt haben.

Bei einem erneuten Vorstoß des Eises – es ging mit Tauwetter und Kaltzeiten ja oft hin und her – wurden die Schichten dann von vorrückenden Gletschern zusammengeschoben, gestaucht und gefaltet. Und ich konnte nun „live“ erleben, wie wieder ein ganz neues Kapitel der Landschaftsgeschichte geschrieben wurde.

Faltige Angelegenheit.

Faltige Angelegenheit. Die dunklen Flecken im Sand sind ausgewaschene Schwerminerale wie Magnetit und Ilmenit.

Natürlich wäre es ein idealer Tag gewesen, um Fossilien und nordische Geschiebe  zu sammeln. Aber heute wollte ich einfach nur herumschlendern und die – zumindest auf dem vom Sturm frisch aufgeworfenen Strandwall – unberührte Natur genießen.

Strandwall bei Marienfelde.

Strandwall bei Marienfelde.

Auf dem letzen Kilometer vor dem Leuchtturm Bülk schaute ich dann aber doch genauer auf den Spülsaum. Hier irgendwo müssten jene fünf Flaschenposten angetrieben worden sein, die ich am 29. Oktober bei den Dreharbeiten am Leuchtturm ausgeworfen hatte. Vielleicht waren sie auf irgendeinem Geröll zu Bruch gegangen und inzwischen zu Seeglas transmutiert. Aber eigentlich ist dieser Strandabschnitt doch recht flaschenpostfreundlich. Jedenfalls fand ich nichts Verdächtiges. Wahrscheinlich hatte jemand die Buddeln unversehrt gefunden, ohne sich zu melden.

Flaschenpost Nr. 75, die mit den vielen Briefen aus der „Szene“, musste nun noch für ein Fotoshooting herhalten. Man weiß ja nie, was mit so einer Briefbuddel passiert, wenn man sie einmal den Fluten übergeben hat. Und deshalb wollte ich zumindest dieses Prachtstück, in das so viele Leute ihre Mühe investiert hatten, fotografisch verewigen.

Die neue Flaschenpost bei Wikipedia.

Inzwischen ziert dieses Bild den Flaschenpost-Artikel bei Wikipedia.

Die Bemalung mit Acylfarbe erwies sich dabei als nicht so haltbar, wie ich dachte. Da muss ich mir wohl mal was Besseres einfallen lassen. Na, wenigstens sah die Buddel auf den Fotos schon so ramponiert aus, als hätte sie ein weites Seeabenteuer hinter sich gehabt.

Die Reise begann um 15.00 Uhr an der großen Buhne am Leuchtturm. Der Wind, der mittags ziemlich eingeschlafen war, wehte nun schwach bis mäßig aus Südwest. Das war ideal. Eine Feder und zwei kleine rote Steinchen, die sich auf der Wanderung zu dem Legostein, dem Golfball, einem „Hühnergott“ (ein Feuerstein mit Loch) und einem Stück Seeglas in meiner Parkatasche gesellt hatten, verfrachtete ich zu dem Brief in die Bitter-Lemon-Flasche. Sie machte den Anfang des kleinen Geschwaders. Dann kam die Gemeinschaftsflaschenpost 75 mit ihrem poppigen Make-Up. Wegen ihres schweren massiven Bodens trieb sie ganz malerisch aufrecht.

Abendstimmung am Nachmittag.

Abendstimmung am Nachmittag.

Die Weinflaschen, die ich zum Schluss in die Förde warf, waren leichter und trieben daher schneller. Als wollten sie sich verabschieden, stupsten sie beim Überholen ihre Vorgängerin vorsichtig an. Wie freundlich Flaschenposten doch sind! 😉

Ich schlenderte noch ein wenig bis zur nächsten nördlich gelegenen Buhne zurück. Mit etwas Mühe konnte ich einige der Flaschen ausmachen und ihnen hinterherschauen. Sie waren in der letzten Viertelstunde etwa 70 bis 80 Meter weit gekommen.

Inzwischen hatte ein langsam herannahendes Tief Altostratusbewölkung vorausgeschickt. In der untergehenden Sonne gab das ein wunderbares Licht. So ärgerte es mich auch überhaupt nicht, dass mir, als ich in Strande ankam, der Bus vor der Nase weg fuhr. Da hatte ich Zeit, mich noch in die Veranda des Yachthotels zu setzen und bei Pflaumenkuchen und Cappuccino in die Dämmerung zu schauen.

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4 Gedanken zu „Die Ruhe nach dem Sturm. Ein Herbsttag am Strand.

  1. fokusfreude

    Ein wundervoller Beitrag! Emotional, lehrreich, spannend … danke fürs Mitnehmen! Ich hoffe, dass die Finder die Schätze zu würdigen wissen und wünsche deinen Buddeln einstweilen gute Reise und ein frohes Treiben.
    Liebe Grüße!

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