Wie sich ein Kindheitstraum erfüllte: Flaschenpost Nr. 136


Börsenspekulanten handeln gern antizyklisch. Wenn der Kurs einer Aktie in den Keller geht, dann kaufen sie günstig, was Andere loswerden wollen. Wenn die Kurve nach oben geht, machen sie die Papiere zu Geld. Da mein Finanzstatus, um es hydrographisch auszudrücken, den Pegel von Normalnull selten übersteigt, kann ich mir solche Erörterungen eigentlich sparen. Trotzdem, auch ich handle gerne antizyklisch. Das geht so:

Stellen wir uns einen Sommertag vor. Vom wolkenlosen Himmel brennt die Sonne. Die Luft über dem Strand flimmert. Man spürt die Hitze nicht nur auf der Haut, man riecht sie förmlich. Im Sand liegen Menschenleiber, rot oder braungebrannt, dicht an dicht wie die Seelöwen an der Galapagosküste. Die ganze Stadt scheint dort zu braten, so viele sind es.

Und wo bin ich? – In der Kunsthalle. Menschenleer ist es dort, weil niemand sonst bei diesem „schönen“ Wetter ins Museum geht. – Fast meditative Stille. – Niemanden stört es, dass ich die Sandalen ausziehe und barfuß über den kühlen Marmorboden schlendere. Weiße Baumwollvorhänge an den Fenstern schützen vor dem gleißenden Licht da draußen. Es ist angenehm temperiert. Sogar die Luftfeuchtigkeit ist zum Schutze der Alten Meister, wie man Besucher in meinem Lebensabschnitt dort liebevoll nennt, weder zu hoch noch zu niedrig.

Szenenwechsel. Derselbe Strand wie eben, aber Mitte Februar. Ein atlantischer Tiefausläufer zieht durch, am Vormittag passiert die Kaltfront. Der Wind dreht langsam von West auf Südwest und legt ordentlich zu. Strandwetter also. – Mein Strandwetter!

Strandwetter!

Nein, noch bin ich nicht da draußen. Den ganzen Vormittag noch prasselt der Regen horizontal gegen die Wohnzimmerscheibe. Da habe ich Zeit, noch ein wenig zu schreiben und zu basteln. Flaschenpost natürlich, was sonst!

Eine Olivenölflasche wird mit dem Üblichen ausgestattet: ein handschriftlicher Brief kommt hinein, eine Ausgabe der Baltic-Sea-Scrolls, eine Karte mit Post- und E-Mailadresse. 10 ct Finderlohn und ein Jackenknopf, damit es beim Aufheben verheißungsvoll klimpert und die unauffällig grüne Flasche (Nr. 135) nicht versehentlich unbesehen entsorgt wird. Ein Zuckertütchen aus einem Café aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen, das muss so ein Spleen von mir sein.

Dann fällt mir auf, dass die Buddel, eine relativ weite Mündung hat. Da passt doch glatt noch eine einfache Holzperlenkette hindurch, die ich mal bei einer Haushaltsauflösung gefunden hatte und die seit Jahren ohne Verwendung in einer Schublade herumlag. Die möge der Finder, so ergänzte ich den Brief, entweder behalten oder dem nächstbesten weiblichen Wesen schenken, das ihm in die Quere oder in den Sinn kommt. Grinsend stelle ich mir so eine Szene mit verwundert dreinschauenden Menschen am Strand vor und bin froh, nicht selbst der Finder zu sein und irgendeiner Dame diese reichlich unglaubwürdige Geschichte plausibel machen zu müssen. – Und, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass mir irgendjemand auf diesen schrägen Buddelbrief antworten wird. Aber wer weiß, Flaschenposten sind immer für Überraschungen gut!

Dann kommt eine kleine kompakte Viertelliter-Rotweinflasche dran, Nr. 136. Sie ist ebenfalls grün, hat einen gedrungenen ovalen Körper und einen markanten kantigen Wulst am Flaschenhals, – „Kragenflasche“ nennen Archäologen so was. Sie lag schon lange im Keller herum, weil ich eigentlich etwas Besonderes damit vorgehabt hatte. Ein guter Freund, ebenfalls Flaschenpostler, hatte mal von einem ihm bekannten Skipper erzählt, der im Süd-Sommer mit seiner Hochseeyacht regelmäßig in der Drake-Strait unterwegs sei. Dem, so meinte er, könnten wir vielleicht ein Brieffläschchen zwecks Posteinwurf mit auf die Reise geben…

Postweg?

Kopfkino: Die gefürchteten Stürme vor Kap Hoorn. Orkane, die die Wassermassen des Südpolarmeeres zwischen Graham- und Feuerland hindurchpressen und zu gewaltigen Kreuzseen auftürmen. Weiße Gischt bedeckt in breiten Bahnen den Ozean, – die Leichentücher so vieler stolzer Windjammer, die, entmastet und quergeschlagen, von den tobenden Elementen in die Tiefe gerissen wurden. In den schäumenden Wogen kaum sichtbar eine kleine Flasche, kaum eine Spanne lang. Darin trocken und sicher eingeschlossen ein Stück Papier mit ein paar freundlichen Zeilen, dazu bestimmt, in den Roaring Forties durch ein Seegebiet zu reisen, auf dem bestenfalls mal ein Forschungsschiff auf dem Weg zu einer Antarktis-Station oder auch eine hochgezüchtete Ocean-Race-Rennyacht den Kurs kreuzt. Vielleicht nach drei Jahren eine Landung an den sonnigen Stränden von Yambuk oder Wedge Island auf der anderen Seite der Welt. Oder sonst wo, wer sollte das wissen?

Der älteste erhaltene Flaschenbrief reiste in drei Jahren von Kap Hoorn nach Yambuk an der Küste Australiens.

Dafür hatte ich also diese Buddel reserviert. Klein genug, um im Fluggepäck zwischen den Socken des Skippers Platz zu finden oder sonst wie zum erträglichen Preis nach Ushuaia, der südlichsten Stadt der Welt, verschifft zu werden. Und leidlich kompakt und robust, um auch eine ruppige Strandung gut zu überstehen, wie ich hoffte.

Aber dann kam die Corona-Pandemie oder was auch immer dazwischen und von dem Unternehmen war nicht mehr die Rede. Nun also Plan B. – B wie Baltic Sea oder wie Bülk, mein heutiges Ziel.

Zu meinen guten Ratschlägen für angehende Flaschenpostler gehört immer der Hinweis, dafür zu sorgen, dass der Flaschenbrief vom Finder auch problemlos aus der Flasche herausgeholt werden kann. Haha –, jetzt habe ich meine liebe Not, meine ganze Post in der kleinen Buddel zu verstauen! Nach mehreren Anläufen klappt auch das. Statt des knallroten Siegellacks, mit dem ich die vorherige Flasche abgedichtet hatte, nehme ich nun dunkelblauen. Mit voller Absicht. Die Flaschenpost soll bewusst unscheinbar sein und von jemandem gefunden werden, der besonders aufmerksam am Strand entlang geht und alles in Augenschein nimmt, was da herumliegt.

Der Regen hat sich gerade verzogen, als ich in Schilksee aus dem Bus steige und losmarschiere. Kaum bin ich aus dem Windschatten des Olympiazentrums raus, merke ich, dass auch Fußgänger hart Gegenruder geben müssen, wenn sie bei sieben bis acht Windstärken nicht leewärts abgedriftet werden wollen. Am Strander Yachthafen verstaue ich sicherheitshalber meine Tweedmütze im Rucksack, damit sie nicht unversehens den Abflug macht, um den Flaschenposten vorauszuschwimmen.

Kleinkunst vom Valentinstag?

Noch einmal werde ich leewärts versetzt und stoße dabei auf ein kleines Kunstwerk am Wegesrand. Irgendjemand hat dort ein Herz aus liebevoll bemalten und beschrifteten Steinen ausgelegt, die alle an die Tugenden wahrer Liebe erinnern. Wie zauberhaft, diese Überraschung!

…wünsche ich jedem!

Mit Hundepfote.

Dann habe ich freien Blick auf die Bühne, auf der mir ein leider unfotografierbares und schwer zu beschreibendes Stück dargeboten wird. Der stürmische Wind legt das Wasser in eng geripptes Plissee mit feinen Schaumkronen, von denen etwas Gischt abweht. Die aus der Kieler Förde herauswandernden Wellen treffen sich vor der Ecke am Bülker Leuchtturm mit denen, die aus der Eckernförder Bucht herauskommen und nach zehn Seemeilen Anlauf ein gutes Stück länger und höher sind. Dort vereinen sie sich zu einem faszinierenden Muster von Kreuzseen.

Ich mache noch ein paar Abschiedsfotos der beiden Flaschen und gehe auf die große Buhne hinaus. Der Wind hat viel Wasser aus den Förden hinausgedrückt, ich muss deshalb weit werfen. Nr. 135 macht den Anfang. Die klobige vierkantige Buddel fliegt in die Förde, legt sich quer zum Wind und vollführt auf den kabbeligen Wellen einen munteren Tanz. Dann kommt Nr. 136 und sorgt für eine Schrecksekunde, – nur knapp einen Meter neben ihrer Kollegin klatscht sie ins Wasser. Tanzen ist ihr zu albern. Der dicke Kragen am Flaschenhals wirkt wie ein Treibanker, so dass sie sich längs in die Strömung legt und die Wellen am ovalen Körper vorbeigleiten lässt.

Vor der Abreise.

Eine Weile schaue ich den Flaschenposten hinterher. Die kleine, tief im Wasser liegende 136 kann ich schon bald nicht mehr sehen. Neun bis zehn Windstärken sollten es da draußen geben. Gute Reise und frohes Treiben!

Nein, es ist nicht meine Art, mein Futter zu fotografieren, aber das muss nun sein! 🙂

Kaffeezeit, zur Feier des Tages gönne ich mir einen Besuch im Leuchtturm-Pavillon. Die Holzkonstruktion der Kuppel knarrt wie ein Segelschiff, als der stürmische Wind draußen das die Blätter vom letzten Herbst um die Fenster wirbelt. „Spart den Laubbläser“, kommentiert Wirtin Petra trocken. Ich lasse es mir mit einem üppigen Stück Haselnusstorte gut gehen und schaue auf die Förde hinaus.

„Lassen sie sich nicht wegpusten“, meint die Kellnerin, als ich mich schließlich, gut gestärkt, verabschiede. „Aber man will ja was erleben, nä?“ fügt sie hinzu und grinst. – „Jou, deshalb bin ich hier!“

Wellen gucken…

Ich strolche noch eine ganze Weile am Strand herum. Eigentlich hatte ich vorgehabt, den Weg landeinwärts am Dorf Bülk vorbei einzuschlagen und durch eine Allee knorriger Eichen zurück zu spazieren. Aber man sagt diesen altehrwürdigen Bäumen dort nach, dass sie bei Starkwind übermütig werden und mit Ästen nach friedfertigen Wandersleuten werfen. Das ist mir dann doch etwas unheimlich, weswegen ich, Spießertum hin oder her, doch die Promenade nehme. Dabei werfe ich rechter Hand noch einen Blick auf die Burg Bülk, deren eingehendere Besichtigung ich aber auf einen späteren Zeitpunkt verschieben muss.

Kann man diese prachtvolle Rittersburg übersehen?

Burg Bülk, – noch nie gehört? Nun ja, auch wenn man drauf guckt, muss man schon wissen, dass sie da ist. Besser gesagt, dass sie mal da war. Aus der Ferne ist eigentlich nur ein flacher Hügel mit ein wenig Gebüsch und ein paar Bäumen zu sehen. Nach Laser-Scans aus der Luft handelte es sich ursprünglich wohl um eine Motte, eine in sumpfigem Gelände angelegte Ringwallanlage mit Graben von ca. 50 Meter Durchmesser und einem Wohnturm in der Mitte. Ein eher bescheidener Sitz von Rittersleuten, die aber immerhin die Namen Reventlow und Ranzau trugen, – schleswig-holsteinischer Uradel und in der Geschichte des Landes allgegenwärtig. Noch im 19. Jahrhundert stand hier ein nicht großes, aber doch ganz respektables Wasserschloss.

Es ist schon dunkel, als ich, glücklich und windzerzaust, in dem Bus steige.

***

„Ein Kindheitstraum ist – wenn auch sehr spät in meinen Leben – in Erfüllung gegangen: ich habe eine echte Flaschenpost gefunden!“

So beginnt die Fundmeldung, die ich Anfang März per E-Mail  bekomme. Anschaulich schildert Beate Schieck (ich darf den Namen nennen und auch ihre Fotos verwenden), wie sie am Strand von Rerik auf Buddel 136 gestoßen war:

„Wir hatten eine Woche Winterurlaub an der Ostsee gebucht, weil wir die Ruhe lieben und vor allem, weil  ich sehr gern bei Wind und Regen am Strand spazieren gehe.

…und es war stürmisch und das Meer war aufgewühlt und ich bin dennoch gelaufen und habe es einfach nur genossen…

Eine echte Flaschenpost! Foto: Beate Schieck.

Als ich dann am Montag – 27. Februar – früh wieder ganz allein am Strand war, sah ich dann diese grüne Flasche – halb verbuddelt – im Sand liegen. Leider war ich auch etwas unsicher, ob es sich nicht um einen gefährlichen Gegenstand handelt und habe sie erst einmal vorsichtig mit dem Schuh aus dem Sand gekullert…. dann konnte ich aber schon etwas lesen:  Flaschenpost

Vorsichtig habe ich sie aufgehoben und da sie sehr gut verschlossen und versiegelt war, habe ich sie in meinen Rucksack gesteckt.

Obwohl ich sehr neugierig war, habe ich meinen Spaziergang fortgesetzt und habe eifrig Seeglas gesucht.

Als ich dann wieder in unserem Feriendomizil war, bat ich meinen Mann, mir die Flasche zu öffnen…“

Wie war das, – wollte ich nicht, dass die kleine Weinflasche von einem besonders aufmerksamen Menschen gefunden wird? Jemandem, der Freude auch an kleinen Dingen hat? – Hach, diese Freude, die ich aus diesen Zeilen herauslese! Dabei ist eine Flaschenpost doch nur ein Stück Altglas mit etwas Papier darin.

Rechts das kleine Kreuzchen: die Fundstelle am Strand von Rerik. Foto: Beate Schieck.

Beates Geschichte geht noch ein bisschen weiter. Wieder daheim in Dessau wurde mein in haarsträubendem Englisch verfasster Brief und ein Gedicht aus Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“ übersetzt. Das rief bei der Finderin Kindheitserinnerungen wach. Das Buch gehörte nämlich zur mit Begeisterung gelesenen Jugendlektüre von ihr und ihrem Bruder.

Zehn Tage war der Flaschenbrief von Bülk nach Rerik unterwegs. Fragt sich nur, ob er oben rum durch den Fehmarnbelt oder unten rum durch den Fehmarnsund am „Knust“ vorbei gesegelt ist. Ich tippe mal auf den großen Törn von ca. 120 km oder 65 sm. Egal, – er hat „seine“ Finderin gefunden. Und ich weiß nun, was ich auch vorher schon wusste, warum ich nämlich Flaschenposten auf die Reise schicke. Genau für solche Erlebnisse! Herzlichen Dank, liebe Beate, für deine lebendige Schilderung und die Fotos!

Inszwischen ist Nachschub unterwegs. Am letzten Montag ist Sommersturm Zacharias vorbeigezogen und ich habe ihm eilends Post mit auf die Reise gegeben. Mal sehen, was daraus wird. Gerade gibt es eine ziemliche Strömung durch den Großen Belt. Ich bin gespannt!

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Ein Gedanke zu „Wie sich ein Kindheitstraum erfüllte: Flaschenpost Nr. 136

  1. Super, dass die Flaschenpost so schnell gefunden wurde!

    Das mit dem antizyklischen Verhalten nutze ich auch beim Reisen:
    Im Winter an die Adria oder nach Sizilien, und man hat Ruhe, günstige Preise und vor allem eine örtliche Bevölkerung, die endlich mal wieder Zeit für einen Plausch hat.
    Im Sommer, na gut, da kann man fast nirgendwo hin, weil da alles voll ist. Da fahre ich dann mit dem Deutschlandticket die Kleinstädte ab. 🙂

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