Wolfgang Struck, Flaschenpost. Eine Rezension


 

Wenn mich jemand einlüde, mit ihm in einer Bundesbehörde in alten, vergilbten Formularblättern zu stöbern, so würde ich wohl naserümpfend ablehnen. Aber genau das tut Wolfgang Struck in seinem jüngst erschienenen Buch „Flaschenpost“. Der Titel sagt es: es geht nicht um irgendwelche Akten. Die Papiere, die der Autor hier vorstellt, sind durch eine Seereise geadelt. Jedes Stück hat sie ausweislich zahlreicher Stockflecken, Risse und Knicke, vor allem aber durch die eingetragenen Anfangs- und Endpositionen der Ozeanfahrt, allein in einer Flasche unternommen. Es sind Flaschenposten, Zeugnisse eines Forschungsprojektes, das der Ozeanograph Georg Neumayer im 19. Jahrhundert begann, um Aufschluss über die weltweiten Meeresströmungen zu bekommen. Seine Idee: Der Absender trägt auf einer Seefahrt Datum, Position, den Namen des Schiffes in den Vordruck ein, steckt ihn in eine Flasche, verschließt sie sorgfältig und wirft sie über Bord. Der Finder soll dann seinerseits Fundort und -datum eintragen und den Zettel an die Deutsche Seewarte nach Hamburg zurücksenden oder dem nächsten deutschen Konsulat zur Weiterleitung übergeben.

662 dieser Formulare sind im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, einem Nachfolgeinstitut der Deutschen Seewarte, die Neumayer einst leitete, erhalten. Sie sind in dicke Alben eingeklebt, die zusätzliche Anmerkungen, Informationen und Korrespondenzen über die jeweilige Driftfahrt der Buddel enthalten. 15 dieser behördlichen Flaschenposten stellt Struck vor. Sie sind als Reproduktionen zusammen mit den Vermerken in den Alben abgebildet. Ein kurzer Steckbrief gibt die auf den Originalen oft kaum zu entziffernden Daten zum Schiff, von dem sie ausgesetzt wurden, zur Abwurfposition, zu Fundort und Finder wieder und erläutert die Angaben, die über die auf dem Formular eingetragenen Daten hinaus über die jeweilige Flaschenpost bekannt sind. Den Anfang macht dabei das älteste erhaltenen Exemplar der Sammlung, das Neumayers „Bediensteter“ Eduard Brinkmann 1864 in der Nähe von Kap Hoorn aussetzte und das knapp drei Jahre später an der Küste Australiens gefunden wurde.

Mal mehr, mal weniger auf die dargestellten Beispiele dieser Flaschenformulare eingehend, erzählt Struck die Geschichte dieses Forschungsprojektes, seines Urhebers und auch der Flaschenpost im Allgemeinen. „Am Anfang stehen Katastrophen“, so beginnt das erste Kapitel des Buches. Auch wenn die Assoziation der Flaschenpost mit dem auf einer einsamen Insel gestrandeten Fahrensmann in den ersten wissenschaftlichen Publikationen zu Driftkörpern auftaucht, so ist sie doch weitgehend ein Produkt der Phantasie bzw. der Literatur. Mit vielen Beispielen an mehreren Stellen des Buches entfaltet der Autor, – er lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Erfurt -, neben den forschungsgeschichtlichen Fakten gewissermaßen noch ein Paralleluniversum, in dem Buddelbriefe durch die Welt der Dichter treiben. Immer wieder gibt es dabei Analogien und Berührungspunkte, z. B. wenn dem in Neuseeland gefundenen Formular Nr. 220 ein Artikel einer örtlichen Zeitung beigefügt ist, der erst ausführlich das Sujet des Schiffbruchs thematisiert, bevor der nüchterne Zweck dieser Flaschenpost genannt wird.

Struck verortet den historischen Beginn der Flaschenpost in einer Zeit, in dem Post-, Personen- und Warenverkehr weltumspannende Dimensionen mit den entsprechenden Strukturen bekam. Ohne ein effektives internationales Postwesen wäre die Rücksendung der in allen Enden der Erde antreibenden Driftzettel auch gar nicht möglich gewesen.

Diese erste Welle der Globalisierung im 19. Jahrhundert umfasste auch das naturwissenschaftliche Denken. Die Zusammenhänge der Natur wurden mehr und mehr ganzheitlich begriffen, den Ozean mit seinen den Globus umkreisenden Strömungen begann man als Organismus zu betrachten.

Protagonist Neumayer nähert sich diesem Forschungsfeld auf einem Weg an, der genau so bewegt ist wie das Meer, das ihn so interessiert. Statt nach abgeschlossenem Physikstudium eine Universitätskarriere anzustreben, liest er sich in nautische Navigation ein und lässt sich als einfacher Matrose von raubeinigen Teerjacken das Schifferhandwerk beibringen, um dann in Hamburg das Steuermannspatent zu erwerben. Bald darauf sieht man ihn als Goldschürfer in Australien. Ein Jahrzehnt später führt er dort in den Snowy Mountains als Chef einer örtlichen Behörde eine Expedition zur Vermessung des Magnetfeldes durch.

Auf der Rückreise nach Europa gehen dann die ersten Flaschenposten über Bord, die das Thema dieses Buches sind. Der Wert dieser Driftkörper für die Wissenschaft war allerdings von Anfang an umstritten, da man ja immer nur den Anfangs- und Endpunkt ihrer Reise kannte, über die dazwischenliegende Strecke aber nur Mutmaßungen anstellen konnte. Besonders der bekannte Gothaer Geograph August Petermann lieferte sich mit Neumayer heftige Fehden.

Blättern in Akten der See: ein Blick ins Buch.

So nüchtern die in den Alben der Deutschen Seewarte gesammelten Flaschenpostformulare auf den ersten Blick sein mögen,  Struck entdeckt immer wieder Details am Rande – manchmal ganz wörtlich – und Beiwerk – ebenfalls wörtlich -, das auf die jeweils beteiligten Menschen verweist. Seine Spuren sind beigefügte Briefe und Kartenskizzen der Rücksender, manchmal sind es die Namen – oder die Namenlosigkeit einfacher Arbeiter – und die Art, wie das Formular ausgefüllt wurde, beispielsweise wenn der Zettel Nr. 52 von gleich vier Schiffspassagieren unterzeichnet und mit dem Vermerk „An Bord alles wohl“ versehen wird. Flaschenpost ist und war von Anfang an etwas Besonderes, sie war selbst auch bei diesem Wissenschaftsprojekt nie nur reine Datensammlung.

Als ausgewiesener Kenner der der Kolonialgeschichte nutzt der Autor die imaginären Reiserouten der Drifter auf dem Ozean, aber auch die Übermittlungswege der aufgefundenen Zettel zu Lande, um schlaglichtartig die sozialen und politischen Verhältnisse der jeweiligen Länder aufzudecken.

Gegen Ende des Buches wird der Leser dann doch noch in eine reale Schiffkatastrophe mit hineingenommen, die sich in mehreren in Flaschen gefundenen Abschiedsbriefen dokumentiert. Dann wendet sich Struck in zwei vielleicht zu ausführlich nacherzählten Beispielen noch einmal der Flaschenpost in der Literatur zu. Bei Jules Verne führt ein schwer zu entziffernder Buddelbrief zu einer Schnitzeljagd über die Weltmeere. In einem Märchen Christian Andersons dagegen scheitert der Versuch einer Kommunikation. – By the way, als passionierter Flaschenpostschreiber beschäftigt mich beides: Welcher Stift ist für so ein Unternehmen überhaupt geeignet? In welcher Sprache soll ich schreiben? Und könnte nicht die eine oder andere unbeantwortete Driftbuddel ungeöffnet als Deko irgendwo auf dem Kamisims stehen?

Das letzte Kapitel heißt „Wie es weitergeht“, es ist das kürzeste und das schwächste des Buches. Es leuchtet ein, dass sich Struck – wenn auch nicht immer konsequent – auf das in den vier Alben der Seewarte dokumentierte Projekt Georg von Neumayers konzentriert. Das Thema führt sonst einfach ins Uferlose.

Es wäre aber eine runde Sache gewesen, wenn noch die 1903 von der Ersten deutschen Antarktis Expedition südlich von Tasmanien ausgesetzte und 1955 auf Neuseeland gefundene Flaschenpost Erwähnung gefunden hätte. Die Forschungsreise ist immerhin eine von Neumayer leidenschaftlich unterstützte Unternehmung gewesen. Wenn man den im Buch oft erwähnten Konjekturen – also Mutmaßungen – folgen will, hat dieser Drifter nicht den direkten Weg genommen, der auf einem Schulatlas gar nicht so weit wirkt, sondern er hat vielleicht mehrmals den Globus umrundet.

Gerne hätte auch jene Flaschenpost genannt werden dürfen, die 131 Jahre und 223 Tage nach dem Aussetzen 2018 an der Westküste Australiens (schon wieder Australien!) entdeckt wurde. Dabei macht nicht die Zahl der Jahre den Reiz aus, sondern die Reise vom Zeitalter der Segelschiffe und handschriftlicher Logbucheinträge in das der modernen Medien. Die Finder waren als Betreiber einer Werbeagentur Experten für Kommunikation und wussten ihr Bildmaterial professionell zu vermarkten. Flasche und das darin befindliche Seewartenformular waren derweil nicht mehr Teil einer ozeanographischen Studie, sondern museale Artefakte einer vergangenen Ära.

Es geht auch im Zeitalter der digitalen Medien weiter! Fundmeldung vom 19.2.2023.

Vergangene Ära? Nein, nicht ganz. Es wirkt in Strucks Buch tatsächlich so, als wäre Neumayers Flaschenpostexperiment das letzte seiner Art gewesen. Aber viele Institute haben die Idee aufgegriffen und weiterentwickelt. Lange bevor hochtechnisierte Argo-Drifter in die Tiefsee abtauchten, ließen britische Forscher durch Bleiballast oder die dickwandige Bauart der Flaschen speziell getrimmte bottom drifter auf den Meeresgrund hinuntergleiten, um den Strömungen tief unten auf die Spur zu kommen. Noch bis in die sechziger Jahre setzten Forschungsschiffe Treibflaschen aus. Später stiegen Lehrkräfte an der Ostküste Amerikas und in Japan ein, um ihren Schülern weltweite ökologische Zusammenhänge zu verdeutlichen. Im Golf von Bengalen treiben mit Sendern ausgestattete Plastikflaschen dem Meeresmüll hinterher. In ähnlichem Interesse vertraut die Universität Oldenburg mit hölzernen Driftern – ganz wie zur Zeit Neumayers – auf die Mitarbeit zufälliger Finder, nur erfolgen deren Meldungen derweil elektronisch über das Internet.

Erst kürzlich widmeten sich  zwei Wissenschaftler einigen Flaschenposten, die im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit ihres Institutes von Besuchern des Forschungsschiffes Ludwig Prandtl geschriebenen und später zwischen Rügen und Bornholm ausgesetzt wurden. Sie verteilten sich in alle Windrichtungen. Die See wurde einfach umgerührt wie die Suppe im Topf. Ironie des Sujets: Buddelbriefe haben ihre eigenen Regeln! Wie dem auch sei, – ist man einmal infiziert, lässt der Flaschenpostvirus nicht los, auch heute nicht. Es geht weiter bis in unsere Zeit. Und das sollte nicht ganz unterschlagen werden.

Fazit:

Struck gelingt es, mit der Darstellung eines einzelnen Experimentes seine Leser in die Zeit des sich gerade etablierenden Faches der Ozeanographie reisen zu lassen und dabei nicht nur Wissenschaftsgeschichte, sondern in vielen anschaulichen Beispielen auch soziale und kolonialpolitische Verhältnisse des 19. Jahrhunderts in zu schildern. Durch subtile Bezüge verbunden – wobei die Assoziationen auch mal überstrapaziert werden – führt er dabei auch immer wieder Werke der schönen Literatur ein. Das Buch ist ausgezeichnet recherchiert, es zeichnet sich durch die feine Beobachtungsgabe des Autors, eine lebendige Sprache und nicht zuletzt durch eine ausgesprochen gediegene Aufmachung aus. Lediglich das letzte Kapitel sollte in einer nächsten Auflage um ein paar knappe Hinweise auf weitere Flaschenpost- und Drifterstudien erweitert werden.

Eine herzliche Leseempfehlung für alle, die sich für Wissenschaft und Seefahrt in jenem Zeitalter interessieren, in dem die Epoche der Entdeckungen in die der Vermessung der Welt über ging. Man sollte bei der Lektüre einen Atlas zur Hand haben, um den Flaschenposten mit dem Finger auf der Karte nachreisen zu können.

Wolfgang Struck, Flaschenpost: Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment. Hamburg 2022: mare
223 S. 1 Karte, 17 Abb., Halbleinen, 36,00 €
ISBN: 978-3-86648-673-7

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Das Titelbild ganz oben zeigt einen Ausschnitt der Reproduktion auf S. 100/1001 des Buches.

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Ein Gedanke zu „Wolfgang Struck, Flaschenpost. Eine Rezension

  1. Dieses Buch war auch die Grundlage für einen Podcast über Flaschenposten aus der Reihe „Geschichten aus der Geschichte“:
    https://www.geschichte.fm/archiv/gag384/

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