Seeglas: Das Schicksal gescheiterter Flaschenposten.


„Jedes Material wurde von den Wellen in die Form eines Kieselsteins geschliffen; nicht bloß verschiedene Arten von Steinen, sondern auch Kohle, die manche Schiffe verloren hatten, Glasscherben, und in einem Falle sogar eine drei Fuß lange Torfmasse, obwohl Meilen weit nichts Vergleichbares zu sehen war.“ (Henry David Thoreau, Cape Cod.)

Ich bin sicher: Eine gut verschlossene Driftflasche aus Glas kann über Jahrzehnte schwimmen! Auf hoher See ist sie vergleichsweise sicher. Ich meine sogar, dass ihr eine Kollision mit einem Schiff kaum etwas anhaben könnte, wenn sie nicht zu dünnwandig und die Flaschenform nicht zu filigran ist. Die allermeisten Dampfer fahren ja nicht schneller als ein Radfahrer und die Schrauben sind heutzutage auch bei Leerfahrten tief genug unter der Wasserlinie. Da wird die Flaschenpost gerade mal zur Seite geschoben und das wars. Sekt- und Pfandflaschen halten das aus.

Trotzdem verschwindet der Großteil der Flaschenposten auf Nimmerwiedersehen. Was passiert eigentlich mit all denen, die nicht gefunden werden?

Zunächst mal: Wenn eine Flaschenpost nicht beantwortet wurde, heißt das noch nicht, dass sie nicht gefunden worden wäre. Die Fazination, die viele Menschen ergreift, wenn sie eine Briefbuddel am Spüsaum endecken, ist oft zum Thema gemacht worden. Aber wohl längst nicht alle, die es irgendwie an den Strand verschlägt, lassen sich davon anstecken. Manch einer reagiert vielleicht mit Schulterzucken oder denkt: „Flaschenpost, – wie albern! Mit diesem Kinderkram gebe ich mich nicht ab!“ Okay, jedem das Seine, ich kann ja nicht erwarten, dass jeder meine Leidenschaft teilt. Aber die sollen dann bitteschön die Sendung für jemanden liegen lassen, der mehr damit anfangen kann.

In Urlaubsgegenden, – und dazu gehören die meisten europäischen Küstenabschnitte -, dürfte eine Flaschenpost recht schnell aufgehoben werden. Wahrscheinlich noch am Tag des Landfalls.

Dramatische Szenen im Packeis, festgehalten von Expeditionsleiter Julius von Payer. (Heeresgeschichtliches Museum Wien. Bild gemeinfrei.)

Dramatische Szenen im Packeis, festgehalten von Expeditionsleiter Julius von Payer. (Heeresgeschichtliches Museum Wien. Bild gemeinfrei.)

Woanders kann es schon mal länger dauern. So brauchte es 104 Jahre, bis die 1874 vom österreichischen Polarforscher Carl Weyprecht im Eismeer ausgesetzte Botschaft gefunden wurde.  Das Expeditionsschiff war – wie so oft bei damaligen Arktisfahrten –  unrettbar im Packeis eingeschlossen worden. Während der dramatischen Rückreise in offenen Booten verfasste Weyprecht einen kurzen Bericht über die Entdeckung des Franz-Josef-Landes und übergab ihn der See. Eine geradezu klassische Situation! Der in akkurater Schrift verfasste Flaschenbrief gehört damit  zu den ältesten, die bekannt geworden sind. Die zum Franz-Josef-Land gehörige Insel Lamont, wo sie der russische Wissenschaftler Wladimir Serow fand, liegt rund tausend Kilometer nördlich von Sibirien. Da ist eben weniger los als an der Côte d’Azur. In einsamen Weltgegenden muss die Post halt ein bisserl warten.

Ähnliches gilt auch, wenn die Flasche nach der Landung von Dünensand begraben wird. Das kommt offensichtlich gar nicht mal so selten vor. So waren zwei kleine Mineralwasserflaschen ein halbes Jahrhundert in den Dünen von Marthas Vineyard vor der amerikanischen Atlantikküste versteckt (mehr dazu hier) und eine von einem Schiffspassagier ausgesetzte Flaschenpost brachte es auf der anderen Seite des Kontinents auf fast 107 Jahre (das ist der aktuelle Rekord, Artikel hier). [Nachtrag: Inzwischen wurde dieser Rekord um ein Vierteljahrhundert überboten, er liegt jetzt bei fast 132 Jahren. Mehr dazu hier. Auch diese Flasche war lange vom Sand verweht.]

Kritisch wird es an Fels- und Geröllküsten. Da kann es tatsächlich zu Flaschenbruch kommen! Scherben am Strand, – das ist dann tatsächlich ein ernst zu nehmendes Argument gegen die Verwendung von Glasflaschen für unser Geschäft.

Aber auch in so einem Fall halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand verletzt. Schon deswegen, weil sohl kaum jemand barfuß gerade dort herumläuft, wo es besonders steinig ist.

Aber gibt es tatsächlich so viele Scherben am Strand? Und wie sehen die aus? Um mir davon ein Bild zu machen, bin ich einmal einen vier Kilometer langen Strandabschnitt zwischen den Leuchtturm Bülk und Stohl an der Kieler Bucht abgegangen und habe mir dabei jede Scherbe angesehen, die mir am Spülsaum unter die Augen kam. Die erste war diese:

Seeglas 2

Der kleine Feuerstein vorn ist scharfkantiger als die Scherbe.

Die Kanten waren waren schon so abgestumpft, dass ich sie ohne Sorge in die Hand nehmen und in die Jackentasche stecken konnte. Ganz offensichtlich begnügt sich die Brandung nicht damit, die Flasche einfach nur kaputt zu schlagen. Sie arbeitet sofort weiter. Klar: jede Welle stößt die Scherbe gegen irgendwelche Steine, jedes mal werden die Kanten ein Stück runder.

Auch der Sand tut seine Wirkung. Als ich diese Scherbe direkt in die Brandung legte, konnte ich sehen, wie sie bei jedem Wellenschlag 40 bis 50 cm den Strand hinauf geschoben und wieder zurück gespült wurde. Auch der Sand war permanent in Bewegung. Ich wurde dort, wo Land und Meer direkt aufeinander stoßen,  Zeuge einer unablässigen Dynamik. Das wirkt wie Schmirgel.

Auch an diesem robusten  Schnapsflaschenboden leistet die Brandung ganze Arbeit.

Auch an diesem robusten Schnapsflaschenboden leistet die Brandung ganze Arbeit.

Seeglas 6

„Hart im Raume stoßen sich die Sachen!“ (Schiller, Wallenstein)

Der Prozess des Abrundens geht weiter, bis die Scherbe sich kaum noch von gewöhnlichen Steinen unterscheidet.

Kein Stein, sondern Glas!

Kein Stein, sondern Glas!

So etwas nennt man „Seeglas“. Bei Strandgutsammlern sind diese Stücke heiß begehrt! Besonders kreative Jutter verwenden sie für die Herstellung von Schmuck. Blaues und rotes Seeglas ist wegen seiner Seltenheit besonders gefragt.

Seeglas 8

Früher Scherbe, nun Handschmeichler.

Wegen dieser Naturkräfte, die auch eine gescheiterte Flaschenpost relativ schnell und schadlos aufarbeiten und sogar in etwas Schönes verwandeln, habe ich keine Bedenken, für  Flaschenpost Glasflaschen zu verwenden. Vorausgesetzt, sie enthalten kein Plastik, also weder Plastikschraubverschlüsse noch extra Plastiktüten zum Einwickeln des Briefes oder ähnliches. Kunststoff im Meer ist nämlich eine ernste Umweltbelastung.

Flaschenbruch in der Brandung gehört für mich zum Spiel des Zufalls, auf das man sich mit einer Flaschenpost einlässt.

Dämlich finde ich nur Flaschenbruch außerhalb der Brandungszone, wo Wind und Wellen nichts mehr ausrichten können. Sei dies nun durch alkoholisierte Gäste einer Strandparty – da kommen sowieso die meisten Scherben her – oder durch Flaschenpostfrevler, die die Buddel zertrümmern, um an den Brief zu kommen. So was wie hier tut dann echt weh, und dazu muss man nicht mal reintreten!

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2 Gedanken zu „Seeglas: Das Schicksal gescheiterter Flaschenposten.

  1. Pingback: Die Kunst, eine Flaschenpost zu gestalten. | flaschenposten

  2. fokusfreude

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